"Nun ist unsere Kindheit endgültig vorbei", murmelte Olga zu Oleander und blickte über die bunte Blumenwiese hinunter zum See. An dessen Ufer stand eine prächtige Trauerweide, die in manch einer stürmischen Vollmondnacht wie ein Löwe mit seiner riesigen Mähne wirkte, der mit seinen großen Pranken zum Kampf ausholen wollte. Tagsüber hingegen war sie Anziehungskraft für die Kinder aus dem Dorf und Olgas ständiger Wegbegleiter. Wie oft hatte sie sehnsüchtig auf die Trauerweide am See gestarrt, um ihre Gedanken zu ordnen. Dieser Baum war außer Oleander ihr bester Freund und kannte als einziger all ihre Wünsche und Hoffnungen. Immer, wenn ein Wunsch in Erfüllung ging oder sich ein Ereignis gerade so zutrug, wie Olga es sich vorher ausgemalt hatte, ritzte sie einen Buchstaben in die Rinde des Baumstammes. Sie hatte sich vorgenommen, irgendwann einmal, in ferner Zukunft, ihre eigene Lebensgeschichte als Erinnerung darin zu lesen. Außerdem sollte dieser Baum lebendiger Erzähler ihres Lebens sein, wenn sie einmal nicht mehr da wäre. Denn insgeheim glaubte sie fest daran, dass ein großes Geheimnis sie umgab, welches nur der Baum lüften konnte. Oleander schien ihre Gedanken zu lesen, denn er erwiderte: "Ja, unsere unbeschwerte Kindheit wird nie wieder zurückkommen, ganz gleich, was wir auch dafür tun würden. Weißt du noch, als wir uns an den gekrümmten Ästen unserer Trauerweide hin und her schwenkten und mit einem Riesenplatsch in den See fallen ließen?"
Jedes Jahr an Ostern war es soweit, als der Frühling die ersten Sonnenstrahlen in das kleine Dorf schickte. Beide Kinder wollten die ersten sein, die den See zum Baden und Planschen einweihten. Und jedesmal kamen sie dann zitternd vor Kälte, aber mit rot glühenden Wangen nach Hause, wo sie von der alten Jagoda sofort in die Wanne geschickt wurden. Ein kaum merkliches Schmunzeln huschte über Olgas Gesicht, als sie die Haushälterin und Ziehmutter Jagoda vor ihrem geistigen Auge sah, die zwar ab und zu etwas schrullig wirkte, es jedoch in der Tiefe ihres gutmütigen Herzens überhaupt nicht war. Was hatten wir Spaß mit ihr, dachte Olga, und ständig haben wir sie geärgert und ihr lustige Streiche gespielt. Wehmütig saßen die beiden auf der Bank vor ihrem gemütlichen Natursteinhäuschen und hingen ihren Gedanken nach. Jeder auf seine Weise.
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