Blaetterbuche

Bruchteile meiner Erinnerungen, bald 43 Jahre alt,
zeigen unbekannten fernen Wintermärchenwald…
Wintersemesterferien 1970,
vorfristig geplant, gelenkt und geleitet
unsere damalige Studienreise in ein polnisches Staatsgut
in der Nähe von Poznan…
Wie wir dorthin gelangten, weiß ich nicht mehr, ob per Bahn oder Bus…?
Ich erinnere mich an die altehrwürdige Stadt Poznan,
zuvor auf Deutsch einstmals Posen,
in der wir etwas außerhalb des schönen Stadtzentrums
in einem Studentenwohnheim untergebracht worden waren…
Vom Zentrum aus mussten wir selbst zusehen,
wie wir mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach ‚Vinogrady‘ kamen,
wo das Studentenwohnheim sein sollte.

Meinen ersten bleibenden tiefen emotionalen Eindruck
erhielt ich dort in der ersten Nacht –
ermattet von der Reise und ersten Begegnungen lag ich im Bett
und wollte schlafen, aber mich berührte die gesellige herzliche Stimmung
der polnischen Studenten untereinander, die noch draußen in Gemeinschaft
vorm Wohnheim vergnüglich ihre Zeit gemeinsam froh verbrachten,
laut scherzten, sangen und lachten…
und das mitten im Winter, im Februar!
Ich sah nichts, hörte nur, fast nichts verstehend…
Doch das genügte, um mir diese Stimmung zu vermitteln, die mich so tief berührte.
Das war etwas, was mir sehr gefiel, und was ich in dieser Art nicht kannte -
ein derartiger vertrauter gemeinschaftlicher Frohsinn,
der mir das pure Wohlgefühl vermittelte.
Das war beneidenswert, einfach herrlich!

Eines Tages beim Besuch eines Staatsgutes, nach einer „Kartoffelspritverkostung“
aus eigener Schnapsbrennerei wurden wir zu einer Pferdeschlittenfahrt durch verschneiten Winterwald eingeladen.
Wir saßen da auf großem Schlitten in wärmende Decken gehüllt,
ließen uns von den Pferden durch den verschneiten Tann ziehen -
es war sehr romantisch, aber auch reichlich kalt.
Den Kutscher hatte ich um seine kuschlige Fellmütze mit Ohrenklappen beneidet,
damals in diesem weißen polnischen Winterwald…
Das Schönste am Ende jener Tour war ein großes Mahl
an einer herrschaftlichen Tafel im einstigen Gutsherrensaal –
warme Kartoffeln zerfallend wie Schnee…
Leckere Braten mit Soße wurde wie selbstverständlich aufgetischt,
verschiedenes Gemüse und Rotebeete-Salat, geraspelt, der ganz vorzüglich war,
weil abgeschmeckt mit Meerrettich, das alles das reinste Gedicht!

Ein unvergessener Morgen bestach
Tage danach mit seinem Unberührtsein am Abreisetag…
Als wir erwachten, es hell geworden war, und wie wir aus den Fenstern blickten,
was sahen wir da…?

Welche verzauberte Landschaft!
Winterzauber über Nacht…
Tiefverschneit die Stadt noch ruhte -
an einem Wochentag, werktags, märchenhafte Stille...
Keine Menschenseele draußen,
kein einziges Fahrzeug war zu sehen -
unberührte Neuschneepracht!
Wie wunderschön sah alles aus…
Bürgervillen in weiten Gärten,
drum herum rustikale Metall-Zierzäune,
Straßen – überall nur „Puderzuckerwattedeckchen“ - Neuschneemagie!

Etwas später erwachte langsam das sich Mühen um Verkehrsfreiheit,
das dauerte, und zog sich hin…
Doch wurden die Straßen nicht so beräumt, wie wir es aus unseren Landen kannten.
Als wir dann endlich mit einem Bus gen Heimat abreisen konnten,
sahen wir, wie beschwerlich es war.
Die Schneeberge an den Straßenrändern verschmälerten die Fahrbahn arg.
In einer Kleinstadt in Richtung Grenze kam es dadurch unweigerlich zu einem Verkehrsunfall
mit einem uns entgegenkommenden Transitlaster,
weil weder der noch unser Bus genügend ausweichen konnte.
Man fuhr zwar sehr langsam, aber kam nicht mehr vor dem unausweichlichen
Crash zum Stehen.
Beide Fahrzeuge fuhren frontal, partiell, aufeinander auf…
Dieses unsanfte Berühren lädierte beide Fahrzeugfronten.
Ein größeres Loch in unserem Bus ließ kalte Luft einströmen,
die Heizung war ausgefallen, und Leichtverletzte gab es auch,
deren Platzwunden vor Ort in einem Krankenhaus versorgt werden mussten.
Ich hatte das Glück, mittig auf der Rückbank gesessen zu haben,
sodass ich in den Gang flog und auf den dort abgestellten Reisetaschen
recht weich landete.
Ehe wir nach dem Unfall endlich weiterfahren konnten, waren einige Stunden vergangen,
in denen wir uns die Füße in der fremden Stadt vertreten durften
und Toiletten suchten…
Einen Ersatzbus bekamen wir nicht.

Irgendwann weit nach Mitternacht erreichten wir abgespannt und frierend
den Hauptbahnhof in Halle/Saale, von wo aus jeder weiter kommen musste,
entweder in seine Heimatstadt, oder zu seinem entsprechenden Studentenwohnheim.
Kein Zug fuhr, der mich nach Hause bringen konnte,
kein Bus, der mich und die anderen zum Wohnheim
nach Halle-Neustadt hätte bringen können…
Den weiten Weg zum Studentenwohnheim mussten wir laufen…
Als wir fast schon gegen Morgen erschöpft dort anlangten und Hunger quälte,
gähnte mich nur Leere an.
Ich duschte nur noch warm, um dann erst einmal zu schlafen…
Am lichten Tage wollte ich dann nach Hause in meine Heimatstadt fahren,
aber das war auch nicht unproblematisch, weil es auch hier an jenem 06. März 1970
ganz massiv geschneit hatte. Der Schnee lag hoch wie lange nicht und lähmte alles.
Schneeräumaktionen durch die Armee auf den Autobahnen und von Bürgern auf anderen Straßen…

So war diese Winterreise eine in ein traumhaftes Wintermärchenland,
die letztlich in einem mäßigen Winterwetterchaos endete,
etwas, das man nicht vergisst.

© weimarena 30.11.2012